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Grosskapitale Kapitulation
Annie Lacroix-Riz * arbeitet ihr ganzes Leben daran, die europäischen Machverhältnisse des 20ten Jahrhunderts zu verstehen. Die Professorin für Geschichte an der Universität Paris-VII, schliesst in ihre Analyse einen Bereiche ein, den andere Historiker auslassen: Die Wirtschaft und das Finanzwesen. Denn nur, wenn man die Macht des Kapitals einbezieht, kann man – so die hochdekorierte Historikerin – Geschichte verstehen.
Und das meiste sei Gegenteilig zu dem, was in den Mainstreammedien vermittelt werde. Sie hat zwar früh in ihrer Laufbahn Gegenwind gespürt, aber doch gut arbeiten können. Heute, so erklärt sie Robert Cibis, wäre echtes wissenschaftlich-historisches Arbeiten zu ihren Themen viel schwieriger. Denn die akademischen Freiheiten sind stark eingeschränkt.
Sie kann belegen, dass die Banken und Grossindustriellen entschieden haben, wie der zweite Weltkrieg von statten geht, auch hat sie ganze klare Vorstellungen davon, wie man ihre Vormachtstellung einhegen kann…
Bücher von Annie Lacroix-Riz / Livres d’Annie Lacroix-Riz
- Le choix de la défaite – 3e édition, Les élites françaises dans les années 1930, avril 2024, Dunod
- Les Origines du plan Marshall – Le mythe de „l’aide“ américaine, octobre 2023, Armand Colin
- La non-épuration en France – 2e édition, De 1943 aux années 1950, avril 2023, Dunod
- Les élites françaises entre 1940 et 1944 – De la collaboration avec l’Allemagne à l’alliance américaine, avril 2016, Armand Colin
- Industriels et banquiers français sous l’Occupation – 2e édition entièrement refondue, août 2013, Armand Colin
- Le Vatican, l’Europe et le Reich – nouvelle édition refondue en format poche – De la Première Guerre mondiale à la guerre froide, octobre 2010, Armand Colin
- De Munich à Vichy, L’assassinat de la Troisième République 1938-1940, août 2008, Armand Colin
„L’OMBRE D’HIROSHIMA – Un acte de barbarie„, Le Monde diplomatique, Janvier 1999
Literaturliste und Anmerkungen
00:02:17
Annie Lacroix-Riz: La CGT de la Libération à la scission (1944–1947), 1983
00:13:23
Robert Owen Paxton: Vichy France: Old Guard and New Order 1940-1944, Französischer Titel: La France de Vichy, 1972
00:20:01
Narrative-Sendung mit Daniele Ganser von Januar 2024
00:23:18
Henry Ashby Turner: Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, 1972
oder German Big Business and the Rise of Hitler, 1985
00:28:31
Les 4 D: Dresdner Bank, Darmstädter Bank, Deutsche Bank, Diskonto Bank.
00:39:07
Annie Lacroix-Riz: Industriels et banquiers sous l’occupation. La collaboration économique avec le Reich et Vichy, 1999
00:42:19
Jacques Barnaud war Generaldirektor der Bank Worms, die eng mit der Vichy-Regierung arbeitete
00:46:39
Yanis Varoufakis: Technofeudalismus: Was den Kapitalismus tötete. 2024
00:49:42
Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. 1916
01:03:27
NÖP = Neue Ökonomische Politik: Wirtschaftspolitisches Konzept von Lenin 1921 in der Sowjetunion.
01:11:59
John Gillingham: Belgian business in the Nazi new order, 1977
01:12:37
Annie Lecroix-Riz: Le choix de la défaite . Les élites françaises dans les années 1930, 2010 (dt.: Die Wahl der Niederlage)
Deutsche Rezension der 3. Auflage in der Kommunistischen Arbeiterzeitung
01:14:28
John Gillingham, s.o.
01:17:21
Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht, 1961
01:17:47
Annie Lecroix-Riz: Le Vatican, l´Europe et le Reich de la Première Guerre mondiale à la Guerre Froide (1914-1955), 1996. Neuauflage 2010
01:21:19
Synarchie: Eine 1922 gegründete Geheimstruktur von ursprünglich 12 Financiers, deren Ziel die Zerschlagung des republikanischen Regimes war. Ihr Kern war immer der engste Kreis von Banken und Industrie. Annie Lecroix-Riz hat dies in Le choix de la défaite ausführlich erläutert. Ihre wissenschaftlichen Kollegen halten dies für eine Verschwörungstheorie, obwohl zahlreiche Polizei- und Gerichtsarchive die Rolle der Synarchie als Entscheidungsträger belegen.
Siehe auch Oben und unten im Imperialismus. Werner Rügemer interviewt die französische Historikerin Annie Lacroix-Riz, Neue Rheinische Zeitung. Oder eine französische Definition der Synarchie in Voltairenet.org
01:21:46
Annie Lecroix-Riz: L’Histoire contemporaine sous influence, 2010
01:21:49
Annie Lecroix-Riz: L’Histoire contemporaine toujours sous influence, 2012
01:28:29
France Stonor Saunders, brititsche Historikerin, untersucht die Hintergründe des Kongresses für kulturelle Freiheit (Congress for Cultural Freedom) in The cultural Cold War: The CIA and the world of art and letters, 1999. Neuauflage 2013.
01:29:19
James Stewart Martin: All Honorable Men, 1950
1:36:29
Am 6. Februar 1934 gab es Unruhen mit vielen Toten und Verletzten beim Versuch, das Parlament zu stürmen. Annie Lecroix-Riz sieht darin einen von den Eliten und der Stahlindustrie finanziell unterstützten Putschversuch faschistischer Organisationen, um die französische Linke zu bekämpfen. Siehe hierzu auch die Kommunistische Arbeiterzeitung.
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Rezension: Industriels et banquiers français sous l’occupation
Annie Lacroix-Riz untersucht die Kollaboration der Führungsspitzen der französischen Wirtschaft mit den deutschen Besatzern in den Jahren von 1940 bis 1944. Es ging um Profite in einem geeinten Europa unter deutscher Führung.
Anfang September 1941 stellten einige der einflussreichsten Industriellen und Bankiers des deutsch besetzten Frankreichs ihre Haltung zu den Plänen des NS-Reichs für die Neuordnung des europäischen Kontinents klar. Auf einem Treffen mit einem hochrangigen deutschen Wirtschaftsfunktionär in Paris meldete sich nach einleitenden Worten von Pierre Pucheu, einem Mann der Wirtschaft, der kurz zuvor zum Innenminister des Vichy-Regimes ernannt worden war, Henri Ardant zu Wort. Der Chef der mächtigen Société Générale erklärte im Einvernehmen mit Pucheu und anderen französischen Unternehmern, man setze entschlossen auf Deutschlands Vorstellungen für Europa, nicht zuletzt darauf, dass unter Berliner Führung „die Zollgrenzen beseitigt und eine einheitliche Währung für Europa geschaffen“ würden. Die Stellungnahme sei bemerkenswert, hieß es anschließend in einem streng vertraulichen Bericht eines deutschen Teilnehmers – umso mehr, als Ardant gegenwärtig als „der erste und bedeutendste der französischen Bankiers“ gelten müsse. Aus dem Bericht zitiert in ihrem umfassenden, nun in einer neu überarbeiteten zweiten Auflage publizierten Werk „Industriels et banquiers français sous l’occupation“ („Französische Industrielle und Bankiers während der Besatzungszeit“) die französische Historikerin Annie Lacroix-Riz.
Um die bereitwillige Kollaboration eines Großteils der französischen Industriellen und Bankiers mit der deutschen Besatzungsmacht in den Jahren von 1940 bis 1944 zu verstehen, muss man ihre Vorgeschichte kennen. Die Kollaboration reicht, so schildert es Lacroix-Riz im Einleitungskapitel zu „Industriels et banquiers“, und so hat sie es ausführlich in ihrem Werk Le choix de la défaite beschrieben [1], bis in die 1920er und die 1930er Jahre zurück. Das war die Zeit, in der französische Konzerne die Absprachen und die Kooperation mit deutschen Konzernen intensivierten – und dabei oft genug eine klare deutsche Führung akzeptierten, zuweilen auch Märkte preisgaben wie etwa Schneider-Creuzot, als 1938/39 Skoda, ein Kronjuwel des Konzernimperiums in der Tschechoslowakei, an die Reichswerke Hermann Göring ging. Hinzu kam, dass Teile der französischen Industriellen und Bankiers, durch ihre Frontstellung gegen die Linke im eigenen Land inspiriert, auf der Suche nach politischen Alternativen schon in den 1920er Jahren nach Italien und ab 1933 dann auch ins Deutsche Reich blickten. „Hitler wird in Frankreich Ordnung schaffen“, gab sich zum Beispiel Georges Lang gewiss, Präsident der Druckerei Curial-Archereau und Mitglied des 1935 gegründeten französischen Comité France-Allemagne, das für die Annäherung an Nazideutschland eintrat.
Die gleichsam offiziöse Geschichtsschreibung zum französischen Umgang mit der deutschen Okkupation lautet, das Vichy-Regime habe dem Reich Akzeptanz verschafft; alle anderen, die Wirtschaft inklusive, hätten sich dem zwar letztlich gefügt, dies allerdings nur widerstrebend. Das stellt die Dinge, wie Lacroix-Riz überzeugend nachweist, von den Füßen auf den Kopf. Mit Verweis auf die kraftvollen Stimmen unter den französischen Industriellen und Bankiers, die bereits vor 1940 eine enge Kollaboration mit dem Reich forderten, hält sie trocken fest: „Man leistet einem Besatzer, den man gerufen und installiert hat, keinen Widerstand.“ Rasch, sogar rascher als die Politik, gingen französische Konzerne daran, sich den Vorstellungen der NS-Führung von der Neuordnung Europas unterzuordnen, von der sie sich in mehrfacher Hinsicht Vorteile versprachen. Es ging nicht nur um kurzfristigen Profit wie zum Beispiel die Möglichkeit zum Raub jüdischen Vermögens im Rahmen der sogenannten Arisierung. Es ging auch darum, das Geschäft langfristig zu steigern. Für diejenigen, die kollaborierten, war die Okkupationszeit eine Ära „guter Profite“, wie Lacroix-Riz konstatiert: Das Kapital der großen Banken verdoppelte oder verdreifachte sich; der Pharmakonzern Théraplix konnte die Profite vervierfachen; die Börsenwerte zahlreicher Unternehmen schnellten nach oben und erreichten bis zum Sechsfachen ihres Vorkriegswerts.
Wie bereitwillig französische Konzernherren dabei mit deutschen Konzernen kollaborierten, zeigt exemplarisch das Unternehmen Kuhlmann, das bereits in den 1920er Jahren angefangen hatte, mit der IG Farben zu kooperieren. Der Plan der IG Farben habe im Sommer 1940 darin bestanden, „die französische Industrie zu verpflichten, für die Kriegsmaschinerie der Nazis zu arbeiten“, zitiert Lacroix-Riz aus Aussagen eines deutschen Insiders. Über Kuhlmann wiederum heißt es in einem Bericht eines anderen Insiders, das Unternehmen habe im August 1940 angeboten, „sich voll und ganz in den Dienst Deutschlands zu stellen, um das Chemiepotenzial für die Fortsetzung des Kriegs gegen Großbritannien zu stärken“. Es sei bereit, für die IG Farben „sämtliche Vor- und Hilfsprodukte herzustellen“, die „von deutscher Seite gewünscht“ würden, hieß es weiter. Man wünsche „eine intime Zusammenarbeit“, ja, nichts Geringeres als die gezielte „Integration der französischen Industrie in die europäische Wirtschaft unter einer deutschen Führung“.
Dass die französischen Industriellen und Bankiers skeptisch wurden, nachdem die deutsche Niederlage bei Stalingrad die Gesamtniederlage des Reichs und seiner Kollaborateure hatte erahnen lassen, und dass einige französische Kollaborateure so langsam daran zu denken begannen, ihre Fühler in Richtung USA auszustrecken, zum mutmaßlichen Sieger also, steht auf einem anderen Blatt. Frankreich fand denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Platz letztlich in einem Europa wieder, das sich – den Aggressor und Verlierer des Weltkriegs, Deutschland, inklusive – unter dem Einfluss der USA zusammenzuschließen begann. Wie die USA ihre Hegemonie mit Hilfe des Marshall-Plans durchsetzten – gestützt vor allem auf Deutschland, einen bedeutenden Auslandsstandort ihrer Konzerne, Frankreich gezielt in den Prozess einbeziehend –, das hat Lacroix-Riz in ihrem Werk „Les origines du plan Marshall“ beschrieben.[2] Mit der soeben erschienenen überarbeiteten zweiten Auflage der „Industriels et banquiers français sous l’occupation“ hat die emeritierte Professorin für Zeitgeschichte an der Université Paris-Diderot (Paris-VII) ein Kernstück ihres herausragenden Gesamtwerks neu vorgelegt.
[1] S. dazu Rezension: Le choix de la défaite.
[2] S. dazu Rezension: Les origines du plan Marshall.
Annie Lacroix-Riz: Industriels et banquiers français sous l’Occupation. Préface d’Alexandre Jardin. Dunod. Malakoff 2025. 1224 Seiten. 13,90 Euro.
Wäre schön, wenn es das mit gesprochener deutscher Übersetzung gäbe. Ich schaff das mit den Untertiteln leider nicht und bin ki-mäßig auch nicht mehr fit…