Das neue alte Europa

Anlässlich der sogenannten „Ukraine-Krise“ erläutert der Philosoph Hauke Ritz die Chancen einer russisch-deutschen Verbindung, die universale Kultur Europas und warum wir an einem Scheideweg der globalen Sicherheitspolitik sind.

Zum Buch:
„Der Kampf um die Deutung der Neuzeit“


Russischer Roman oder amerikanischer Blockbuster für den gemütlichen Sofa-Abend zu Hause? Ganz klar, die meisten Menschen entscheiden sich wohl für die Filmvariante. Doch das slawisch-literarische Gegenprogramm würde sich durchaus lohnen. Wer sich schon einmal von den zahllosen fremdartig klingenden Namen in einem der bekannten russischen Standardwerke nicht hat abschrecken lassen, der kennt deren einzigartige Sprache und Analysekraft. Die blitzgescheiten Beobachtungen des Kulturellen, des Politischen, des Gesellschaftslebens: Die Werke sind Zeitdokumente und zeitlos in ihrer Darstellung – vor allem des menschlichen Elements. Wer also ein, zwei dieser Bücher gelesen hat, wird nicht nur wissen, sondern auch fühlen können, wovon Dr. Hauke Ritz in dieser Narrative-Folge spricht. Er schafft es, einen spannenden Bogen zu schlagen zwischen der Kulturverliebtheit der russischen Seele und aktuell politischen Themen wie Nord Stream 2. Das geht und muss auch sein, um aktuelle Geschehnisse besser verstehen zu können.

Zunächst dreht sich das Gespräch um die Problematik, wie mit Russland seit Jahren, ja schon seit Jahrzehnten vom Westen ausgehend verfahren wird. Der Philosoph und Russland-Kenner Dr. Hauke Ritz ist entsetzt davon, wie verantwortungslos gerade Journalisten mit dem Thema umgehen. Er spricht von einer Verrohung der Moral, wenn es darum geht, alles in eine negative Richtung aufzuheizen. Jeder, der nicht sofort angewidert das Gesicht verzieht, wenn es um den großen Staat im Osten geht, wird bei den meisten Anlässen sofort mit einer Meinungsrüge bestraft. Russland-Bashing ist längst salonfähig geworden, ja gesellschaftlich gewünscht. Doch wie kam es dazu? Hauke Ritz berichtet über geschichtliche Zusammenhänge, die Stellung Russlands in Europa und der Welt. Hierbei geht es vor allem um die Phase des Kalten Krieges und den Zerfall der Sowjetunion. Ein Trauma für die Bevölkerung – ebenso wie der Verlust von 27 Millionen Menschenleben im Zweiten Weltkrieg. Es wäre anzunehmen, ein Land, das gerade von Deutschland so schwer geschädigt wurde, würde sich gezielt vom Zentrum Europas abwenden wollen. Doch das ist nicht der Fall.

Die Russen verfügen seit jeher über die kulturelle Sehnsucht, dazuzugehören. Laut Hauke Ritz wünschen sie sich das kulturell so reiche Europa des 19. Jahrhunderts zurück. Sie schätzen das Musische der Musik, das Schöne der Sprache, die Tiefe der Gedanken. Natürlich haben auch in Russland heute Konsumgier und technologische Bequemlichkeiten das Bildungsniveau gesenkt. Doch spannend ist vor allem, wie Dr. Hauke Ritz die nach wie vor vorhandene Analysestärke der Russen beschreibt. Er erklärt, inwieweit sie eher in der Lage sind, politische Gesamtzusammenhänge zu betrachten, als es beispielsweise die Deutschen heutzutage noch vermögen – und wollen. Während hierzulande viele Politiker im Strom der Angepasstheit nach oben befördert werden, geht es den Russen noch darum, konzeptionell und strategisch zu sein. Zukunftsorientiert zu gestalten. Kommt das gut an in der Welt? Ganz offensichtlich nicht. Dabei wäre es so wichtig, dass sich die Menschen nicht nur mit dem Mainstream-Narrativ US-amerikanischer Prägung befassen. Alles in allem geht es bei diesen Fragen schließlich auch darum, wie sich Europa entwickeln wird. Im besten Fall zurück zu gestalterischer Kraft im wertschätzenden Verbund auch mit den osteuropäischen Staaten. Im schlechtesten Fall wird aus der einstigen Kulturmacht in wenigen Jahrzehnten ein durchdigitalisierter Wurmfortsatz des Silikon Valley. Wie das alles genau zu verstehen ist, schildert Dr. Hauke Ritz in diesem bereichernden Gespräch, so zeitlos wie ein russischer Roman.

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