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Ethik K.O.?
Robert Cibis trifft Professor Dr. Christoph Lütge, Professor für Wirtschaftsethik und Leiter des Instituts für Ethik in der Künstlichen Intelligenz. Wo steht Wirtschaft und Gesellschaft seit der Massnahmenkrise 2020-22, und auch Angesichts der disruptiven Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI). Cibis betont, dass die jüngsten Ereignisse eine massive kognitive Dissonanz hervorgerufen hätten, die das Stellen von Grundsatzfragen notwendig mache, insbesondere angesichts weit verbreiteter Dysfunktionalität der deutschen Gesellschaft.
KI-Regulierung als Waffe
Prof. Lütge sieht klare Belege dafür, dass in Europa Lobbyarbeit von Akteuren aus den USA betrieben wurde, um KI-Regulierung voranzutreiben. Als „bestes Beispiel“ nennt er Sam Altman von OpenAI, der Vorträge gehalten habe, in denen er im Grunde nach Regulierung ruft, obwohl er wisse, dass dies in den USA so nicht passieren werde. Cibis fragt, ob dies ein subversiver Angriff auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit sei, was Prof. Lütge bejaht und als „gar nicht zu bestreiten“ bezeichnet.
Europa hinke im Bereich KI massiv hinterher: Nur 5 % der Rechenleistung im Bereich KI in Europa werde hier generiert, während 85 % in den USA passierten. Die europäische Tendenz zur „Regulierungsorgie“ (wie der KI Act, Digital Markets Act und Digital Services Act) schade den europäischen Unternehmen, insbesondere dem Mittelstand und Start-ups, da diese keine eigenen Compliance-Abteilungen leisten könnten, die für große Plattformen selbstverständlich seien. Diese Überregulierung sei kontraproduktiv, da außer Europa weltweit kaum jemand diese harte Regulierung mittrage. Der Draghi-Report zur Wettbewerbsfähigkeit Europas habe dieses Problem im letzten Jahr gewürdigt, indem er sinngemäß sagte: „We are killing our own companies“.
Ethik in der KI
Prof. Lütge befürwortet statt starrer Regulierung sogenannte Soft Governance – also Leitlinien und Richtlinien, die Orientierung bieten, aber nicht bis ins letzte Detail festgeschrieben werden müssen. Das Best Case Szenario sei, funktionierende Ethikprinzipien zu haben, die auch im Interesse der Unternehmen und Organisationen liegen, da Nutzer Systeme nur verwenden, wenn sie diesen vertrauen. Vertrauen sei entscheidend, etwa bei autonomen Fahrzeugen oder im Gesundheitswesen, wo KI Leben retten könne. Vertrauensbildende Maßnahmen könnten beispielsweise Gütesiegel oder externe Dienstleistungen zur Kontrolle der Datennutzung sein.
Die Diskussion berührt auch die Datennutzung: Lütge sieht in Deutschland Hürden, die zu hoch seien, um Patientendaten für das Training von KI-Modellen zu nutzen. Wer dies nicht mache, hole sich die Daten aus dem Ausland (China, USA). Er betont, dass man auf die mögliche Entstehung von Überwachungsszenarien achten müsse. Angesprochen auf die Sorge, ob die KI selbst zu perfider Machtkonzentrationen (wie während der Massnahmenkrise 2020-22) geführt habe, verneint Lütge dies, da die generative KI (GenAI) erst Ende 2022 stark aufkam. Er unterscheidet GenAI (z. B. ChatGPT, die Texte, Bilder und Filme generiert) von der Artificial General Intelligence (AGI), die menschliche Fähigkeiten in allen wesentlichen Aspekten nachbilden könnte. Er äußert Zweifel, ob die aktuellen Fortschritte bereits einen grundsätzlichen Schritt hin zur AGI, also der Singularität, oder gar zu Systemen mit Bewusstsein darstellen.
Bayerischen Ethikrat und „Hetzjagd“
Robert Cibis würdigt Lütge für seine Standhaftigkeit, da dieser trotz Nachteilen kritische Positionen vertritt. Prof. Lütge berichtet von seinen Erfahrungen, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Entfernung aus dem Bayerischen Ethikrat. Er hatte sich dort kontrovers zu den Lockdowns und anderen Maßnahmen geäußert. Dies führte zu einer „regelrechten medialen Hetzjagd“ in der Süddeutschen Zeitung, wobei ihm vorgeworfen wurde, er wolle, dass alte Menschen sterben, obwohl er lediglich darauf hingewiesen hatte, dass das Durchschnittsalter der “Coronatoten” über dem normalen Durchschnittsalter lag. Kurze Zeit später wurde er ohne Begründung aus dem Gremium entfernt. Er vermutet politische Interessen im Hintergrund, die keine kritischen Stimmen duldeten, zumal dies in eine Zeit fiel, in der es auch um Kanzlerkandidaturen ging. Diese kritische Haltung führte zu Nachteilen, darunter dem Verlust von Forschungsgeldern und dem Zerbrechen professioneller Beziehungen.
Gesellschaftliche Aufarbeitung
Lütge betont, dass er eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Massnahmen-Krise für vorrangig hält, um die gesellschaftlichen Gräben zuzuschütten. Er kritisiert, dass in Deutschland diesbezüglich kaum etwas passiert sei, während in anderen Ländern (z. B. den USA) durch politische Ereignisse oder Wahlen bereits mehr Aufarbeitung erzwungen wurde.
Lütge und Cibis kritisieren die Art und Weise, wie die Maßnahmen politisch umgesetzt und medial verkauft wurden. Lütge weist darauf hin, dass die Politik sich gerne auf “die Wissenschaft” verlassen habe, die ihr scheinbar Eindeutiges gesagt habe, was aber „gewissermaßen bestellt worden war“ (z. B. Stellungnahmen der Leopoldina). Es sei unverhältnismäßig gewesen, wie lange die Maßnahmen andauerten, insbesondere der zweite Lockdown ab November 2020, dessen Koordinierung ebenfalls untersucht werden müsse. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Debatten kaum im Parlament stattfanden, sieht Lütge in anderen Ländern (wie England) eine schärfere parlamentarische Debatte. Die Ethikräte hätten in dieser Zeit oft dazu gedient, bereits politisch beschlossene Maßnahmen nachträglich ethisch zu rechtfertigen.
Lütge nennt als starkes Argument für die Überzogenheit der Maßnahmen das Fehlen der Influenza während der Krise, was auch in Schweden – einem Land ohne Lockdowns, 3G oder 2G – beobachtet wurde. Er kritisiert die wachsende „Kontrollwut“ der Politik und die weitreichenden Befugnisse der EU-Organe, bei denen kritische Instanzen fehlten. Als erschreckendes Beispiel nennt er die EU-weite Pflicht zum Einbau von Kontrollsystemen in Neuwagen, die vor zu schnellem Fahren warnen und sogar ins Lenkrad eingreifen.
Empfehlung
Prof. Lütge rät den Zuschauern, sich unvoreingenommen und unabhängig zu informieren, ein gesundes Misstrauen zu bewahren, aber Neuerungen nicht grundsätzlich negativ gegenüberzustehen. Er betont, dass die Digitalisierung ein Werkzeug sei, das Chancen biete und emanzipatorisch wirken könne. Entscheidend sei, die Debatten aufrechtzuerhalten und die Stimme zu erheben, um eine demokratische und offene Gesellschaft zu stärken. Er ist optimistisch, dass sich die Pluralität im Bereich der KI-Anbieter trotz Konzentration weiterentwickeln wird.
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