General a. D. Harald Kujat (Bild commons.wikimedia)

«Den eigenen Sicherheitsinteressen folgen und unabhängig im wahrsten Sinne des Wortes bleiben»

Interview mit General a. D. Harald Kujat*

Quelle: Zeitgeschehen im Fokus

Die Schweiz, die bis vor kurzem noch als verlässlicher neutraler Staat gegolten hat, kann im aktuellen Konflikt die Position des Neutralen nicht mehr einnehmen, weil der Bundesrat gegen Russland Stellung bezogen und sich den Sanktionen der EU angeschlossen hat. Noch vor zwei Jahren gab es das Treffen zwischen Biden und Putin in Genf unter der Vermittlung der Schweiz. Davon ist unser Land leider weit entfernt. Heute, das kann man beobachten, bringen sich andere Staaten in Position und bieten Verhandlungen an wie zum Beispiel die Türkei. Diese Staaten verfügen aber bei weitem nicht über die Fähigkeiten, wie sie die Schweiz vorweisen kann, die eine jahrzehntelange Erfahrung in der Mediation hat. Teilen Sie das?

General a.D. Harald Kujat Ja, natürlich. Ich weiss das noch genau, die INF-Verhandlungen hatten damals [1985] in Genf stattgefunden. Der Unterhändler der USA war Paul Nitze, der russische Kollege war Juli Kwizinski. Die Schweiz hat dabei eine ganz wichtige Rolle gespielt. Solche Verhandlungen ziehen sich auch immer hin und dabei müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Die Schweiz hat das damals geleistet.

Es gab auch ein ganz entscheidendes Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan, bei dem das Eis zwischen beiden Staatsmännern gebrochen ist. Im Gegensatz zu diesen Sternstunden der Diplomatie, die nur ein Neutraler leisten kann, sucht die Schweizer Regierung verstärkt die Nähe zur Nato, was nach ihren Aussagen der Neutralität keinen Abbruch täte. Würden Sie als nicht Schweizer von aussen betrachtet der Schweiz als neutralem Staat noch vertrauen?

Das Vertrauen ist nicht an den Staat gebunden, sondern an Personen, in dem Fall an die jeweilige Regierung. Wenn man zum Beispiel die US-Politik im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ­kritisch hinterfragt, wird das als Antiamerikanismus ausgelegt. Aber in Tat und Wahrheit geht es um die Politik der gegenwärtigen Regierung. Ich kann der Schweiz keinen Rat geben, was ihr Verhältnis zur Nato betrifft. Sicher hätte die Nato-Mitgliedschaft einen grossen Einfluss auf ihren neutralen Status.

 Aber ich will die Frage grundsätzlich beantworten. Ich habe die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn geführt. Deshalb kann ich sagen, dass jeder Staat nicht nur ­bestimmte Voraussetzungen für die Nato-Mitgliedschaft erfüllen muss. Er muss sich auch ­darüber im ­Klaren sein, ob seine sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen für oder gegen eine Nato-Mitgliedschaft sprechen. Das gilt für einen neutralen Staat mehr noch als für jeden anderen. Der Massstab für eine derartige Betrachtung ist die Übereinstimmung der nationalen Sicherheitsstrategie mit dem strategischen Konzept der Nato. Das strategische Konzept soll die Interessen aller Mitgliedsstaaten vereinen. Das bedeutet, die Interessen aller anderen Staaten mitzutragen und nicht nur die ­eigenen.

Was ist das Ziel dahinter?

Jeder Mitgliedsstaat ist nicht nur für die eigene Sicherheit, sondern auch für die Sicherheit aller Verbündeten verantwortlich. Denn ein Angriff auf ein Mitglied wird als Angriff auf alle gewertet. Die Allianz ist ein Bündnis gegenseitiger, kollektiver Sicherheit. 

Unabhängig davon kann auch ein neutraler Staat natürlich die sicherheitspolitische Verbindung zu anderen Staaten intensivieren. Während meiner Zeit als Generalinspekteur hielt ich engen Kontakt mit meinen österreichischen und Schweizer Kollegen. Das hat den grossen Vorteil, dass alle drei Beteiligten sich gegenseitig unterrichten, was für die Sicherheit des eigenen Landes relevant ist.

Einmal hypothetisch gedacht. Was wäre, wenn die Schweiz angegriffen würde?

Ein direkter konventioneller Angriff ist aufgrund der geostrategischen Lage der Schweiz sehr unwahrscheinlich, denn in gewisser Weise ist sie durch die umliegenden Nato-Staaten geschützt. Ich sollte noch erwähnen, dass jeder Mitgliedsstaat an der Streitkräfteplanung teilnimmt, in der durch die Nato Streitkräfteziele vorgegeben werden, die in ihrer Gesamtheit die Verteidigungsfähigkeit sicherstellen sollen. Bereits 2014 haben sich alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, 2 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Vereidigung und mehr als 20 Prozent des Verteidigungshaushalts für moderne Waffensysteme aufzuwenden. 

Für die Schweiz würde das als Mitgliedsland auch alles gelten? 

Ja, sie würde an der Streitkräfteplanung und an der Verteidigungsplanung teilnehmen.

Was heisst das denn konkret?

Die Nato muss natürlich Vorkehrungen für einen Verteidigungsfall treffen. Dafür werden Operationspläne erstellt. Die Mitgliedsstaaten stellen Streitkräfte, die im Verteidigungsfall Nato-Befehlshabern unterstellt werden. Das deutsche Grundgesetz sagt deshalb: «Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.» Möglicherweise müsste die Schweiz eine ähnliche Regelung treffen.

Wenn es tatsächlich so weit käme, was ich nicht glaube und auch nicht wünsche, gäbe es in der Schweiz ein obligatorisches Referendum. Die Verfassung verlangt das, wenn die Schweiz einem Bündnis kollektiver Sicherheit beitreten will. Das Schweizer Volk hätte dann das letzte Wort. Ich denke, diejenigen, die in Bern sitzen, in unserer Hauptstadt, wissen, dass dies eine nicht zu überwindende Hürde darstellt. Die Bevölkerung wird die Neutralität nicht über Bord werfen.

Ich habe oft den Eindruck, dass die Nato-Mitgliedschaft falsch verstanden wird. Das Beispiel Ukraine zeigt es, auch die Diskussion, wie sie bei uns geführt wird. Man glaubt, die Nato übernimmt bedingungslos den Schutz für einen neuen Mitgliedsstaat. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Nato ist – wie es das Grundgesetz formuliert – ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Deshalb muss jeder Staat, der zur Nato-Mitgliedschaft eingeladen wird, in der Lage sein, den Schutz und die Sicherheit aller Mitgliedsstaaten zu erhöhen. 

Sie haben am Anfang gesagt, dass die Schweiz das abwägen sollte, bevor sie sich noch weiter Richtung Nato bewegt. Die Schweiz müsste doch das ganze Gewicht auf eine eigenständige Verteidigung legen, insoweit das für ihre Sicherheit nötig ist. 

Die Schweiz sollte das als Sicherheitsvorsorge tun, was aufgrund ihrer nationalen sicherheitspolitischen Interessen und ihrer geostrategischen Lage notwendig ist. Ich bin deshalb der Meinung, wenn ich das so sagen darf, dass die Schweiz ihre Neutralität beibehalten sollte. Sie hat ihr viele hundert Jahre, auch in den schwierigen Zeiten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, Sicherheit in Frieden und Freiheit gegeben. Gerade in der angespannten Lage, in der sich Europa durch die immer stärkere Europäisierung des Ukrainekriegs befindet, der Gefahr, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein europäischer Krieg um die Ukraine entsteht, halte ich es für wichtig, den eigenen Sicherheitsinteressen zu folgen und unabhängig im wahrsten Sinne des Wortes zu bleiben. 

Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* General a.D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurs­kreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.

veröffentlicht 12.September 2023

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