
Freuds Psychoanalyse: Die große Fälschung.
Warum Freud seine Theorie der Verführung aufgab und den Ödipuskomplex erfand.
Dies ist die Geschichte von drei Skandalen. Drei Skandale, deren Einsatz und Auswirkungen das Verhältnis ganzer Generationen zur Kindheit immer wieder belastet haben. Die Geschichte von drei Fälschungen, von drei Geheimnissen, die von der psychoanalytischen Szene gut gehütet werden.
Ist bekannt, warum Freud seine Theorie der Verführung tatsächlich durch die des Ödipuskomplexes ersetzt hat?
Ist bekannt, dass die Ausgaben von Freuds Werken (bis Mitte der 1980er Jahre!!) zensiert wurden, indem peinliche Passagen so stark gekürzt wurden? Ist bekannt, dass die Ausgaben von Freuds Werken (bis Mitte der 1980er Jahre!!) zensiert wurden, indem peinliche Passagen stark gekürzt wurden? Passagen, die Entstehung der Freudschen Psychoanalyse diskreditieren?
Ist bekannt, dass führende psychoanalytischen Kreise, insbesondere in Frankreich, nach der Offenlegung dieser Passagen versuchten, ihre Existenz zu verbergen und ihre Bedeutung einzuschränken? Und das war alles nur, um das heilige, intellektuelle Konstrukt zu erhalten, welches ohne dieses Verschweigen krachend kollabiert wäre…
I/. Jeffrey M. Masson: Der Autor eines unbequemen Buches
1984 veröffentlichte der Psychoanalytiker Jeffrey Moussaief Masson das Buch „Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie“ (Originaltitel: „The Assault on Truth: Freud’s Suppression of the Seduction Theory“). In psychoanalytischen Kreisen löste das Buch sofort nach seinem Erscheinen in den USA heftige Kontroversen aus, die bald als „Freud-Wars“ bezeichnet wurden. Überraschenderweise wird das Buch in Frankreich, einer der Hochburgen der Freudschen Psychoanalyse weltweit, fast unbemerkt bleiben. Die seltenen Erwähnungen beschränkten sich seitens der Theoretiker auf ein verächtliches Schulterzucken.1
Lassen Sie uns kurz die bahnbrechende Entdeckung aufzeigen, die der Autor in diesem Buch macht – eine Entdeckung, die die damalige freudianische Welt erschüttern musste.
Massons Buch befasst sich mit den Gründen, warum Freud seine berühmte Verführungstheorie aufgab.
Am 21. April 1896 stellte Freud in Wien in seinem Vortrag „Die Ätiologie der Hysterie“ vor seinen Kollegen der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie seine revolutionäre Theorie über Geisteskrankheiten vor. Freud wusste, dass seine Schlussfolgerungen, die er aus seinen klinischen Forschungen zog nur schwer ankommen würden.
Was Freud dann feststellt, ist folgender Punkt: Der Ursprung der Neurosen ist im Erleben eines realen frühen Traumas zu suchen, das die Patienten durchlebt haben. Dieses Trauma ist zudem sexuellen Ursprungs. Im Klartext bedeutet das, was später als „Verführungstheorie“ bezeichnet wurde, dass die neurotischen Symptome auf realen sexuellen Missbrauch zurückzuführen sind, der häufig im Umfeld von Verwandten oder der Familie stattgefunden hat, und nicht nur ein Produkt der Einbildung sein kann. Vergewaltigung, Missbrauch, Verführung, Angriff, Attentat – all diese Begriffe zeigen, dass Freud kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, die Realität eines gelebten und nicht eines phantasierten Inzests zu bekräftigen.
Die Reaktion der damaligen psychiatrischen und psychoanalytischen Fachwelt ließ nicht lange auf sich warten und lässt sich in der bitteren Bemerkung zusammenfassen, die Freud über die Rezeption seiner Theorie machte:
„Der Vortrag über die Ätiologie der Hysterie vor der Psychiatrischen Gesellschaft wurde von diesen Eseln frostig aufgenommen und vom [Konferenzleiter] Krafft-Ebing mit diesem seltsamen Kommentar versehen: ‚Das sieht aus wie ein wissenschaftliches Märchen‘. Und das, nachdem ich ihnen die Lösung für ein jahrtausendealtes Problem aufgezeigt hatte: la Caput Nili [die Quelle des Nil]!“
Die Enthüllung der Häufigkeit von sexuellen Übergriffen und wiederkehrenden Inzestfällen in der damaligen Wiener Gesellschaft löste einen durch Freud erwarteten Aufschrei empörten Leugnens aus. Der hartnäckige Forscher, der er damals war, blieb dennoch standhaft… einige Zeit.
II/. „Was hat man dir denn getan, o armes Kind?“2
Und dann kommt plötzlich der Umschwung.3
Freud kündigt bereits 1897 an, dass er „nicht mehr an seine Neurotik (die Theorie der Neurosen) glaubt“. Er habe sich geirrt. Er sagt, er habe naiv Patienten aufs Wort geglaubt, die nur Fabulationen geliefert hätten. Anstelle von tatsächlich erlebten traumatischen Handlungen habe die klinische Arbeit in Wirklichkeit sexuelle Fantasien aufgedeckt, die vom Patienten ausgingen und nicht auf einen erlebten Angriff zurückzuführen seien.
Dieser Schlüsselmoment in der Entwicklung der Freudschen Theorie ist wohlbekannt. Im Zuge dieses Verzichts wird Freud die Theorie des Ödipuskomplexes einführen, die den Grundstein der Freudschen Psychoanalyse bildet. In Freuds Rede ändert sich nun alles. Der Patient ist krank an seinen eigene sexuelle Fantasien, die er auf andere projiziert. Diese Inhalte, die für die bewusste Psyche unerträglich sind, werden „verdrängt“ (ein grundlegender Begriff, den Freud damals ebenfalls aufbaut). Sie sind gleichzeitig die Ursache für die Symptomatik, die in der Praxis beobachtet wird.
Freud führt in dieser Kehrtwende auch das Konzept der „sexuellen Konstitution“ ein, die die menschliche Psyche strukturiert. Die „angeborene Kraft der Perversionstendenzen“, die sich in diesen Phantasien offenbart und die Pathologie erklärt, wird bald dazu dienen, eine universelle Strukturierung des Menschen zu erklären, die er als Ödipusmythos thematisiert.
Es gibt also keinen Missbrauch, dem die Patienten in der Kindheit zum Opfer gefallen wären. Vielmehr handelt es sich um Phantasien, die den zutiefst sexuellen (und polymorph perversen!) Unterbau ihrer Psyche offenbaren.
III. Eine schöne Leiche… in Freuds Schrank.
Was enthüllt Massons Buch bereits 1984?
Masson stellt im Zuge der Entdeckung unveröffentlichter Dokumente (er war damals Projektleiter im Freud-Archiv in London!) fest, dass die Aufgabe der Verführungstheorie, die die Schuld auf die Seite des Patienten verlagert, aus weniger klaren und weniger wissenschaftlichen Gründen erfolgte, als es die offizielle Geschichtsschreibung gerne festgehalten hat.
So stellt er fest, dass Freuds weitgehend veröffentlichte Korrespondenz Gegenstand von nicht gekennzeichneten Kürzungen war4. Darunter ziehen Passagen aus Briefen an Wilhelm Fliess seine besondere Aufmerksamkeit auf sich.
In diesen Passagen drückt Freud nicht einfach nur aus, dass die Aufrechterhaltung seiner Verführungstheorie ihn beruflich zu viel gekostet und seine persönlichen Ambitionen ruiniert hätte.5 Der Brief vom 21. September 1897 an Fliess erwähnt, dass diese Theorie, die die Realität des Inzests entlarvt, bedeutet hätte, „den Vater zu beschuldigen, pervers zu sein, auch meinen eigenen“. So deutet Freud in dieser von Masson enthüllten Passage an, dass sein Vater selbst sich perverser sexueller Handlungen inzestuöser Natur schuldig gemacht hatte. Der Brief vom 11. Februar desselben Jahres an denselben Adressaten ist noch deutlicher:
„Leider war mein eigener Vater“, schreibt Freud, “einer dieser Perversen, er ist die Ursache für die Hysterie meines Bruders (dessen Symptome im gesamten Identifikationsprozess zu finden sind) und von einigen meiner jüngeren Schwestern. Die Häufigkeit dieses Phänomens gibt mir oft zu denken.“
Freuds vertrauliche Offenbarung gegenüber Fliess wurde in den ersten Ausgaben ihres Briefwechsels herausgeschnitten. Es hätte in der psychoanalytischen Szene und in der psychiatrischen Klinik, die sich auf Freud berief, einen wahren Tsunami auslösen müssen. Die Tatsache, dass Freuds Vater nach eigenem Bekunden ein sexuell Perverser war, der seine Kinder missbraucht hatte6 , wirft ein neues Licht auf die Frage, warum die erste Theorie zugunsten der Ödipus-Theorie aufgegeben wurde und der tatsächliche Aggressor verschwand. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass Freuds Abkehr von der Theorie zumindest von der Schuld seines eigenen Vaters beeinflusst wurde.
Nichts dergleichen wurde jedoch unternommen. Die Infragestellung des Ödipus und das Überdenken von Freuds radikalem Verzicht aufgrund dieser Enthüllungen waren für die psychoanalytischen Kreise zu bedrohlich, als dass man sich daran gewagt hätte. Ein Dogma also, an dem zu rütteln für diesen Berufsstand fatal gewesen wäre.7
Eine verdächtige Abkehr von einer Theorie, von der der junge Freud wusste, dass sie durch die Praxis solide untermauert war? Hatten die Gründe für das Verlassen dieser Konzepts nichts mit Wissenschaft zu tun? Ein missbrauchender Vater, den es zu schützen galt? Nichts davon schaffte, die psychoanalytischen Kreise aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie beeilten sich, dieses Affäre zu vertuschen. Die sehr seltenen wissenschaftlichen Arbeiten, die in diesem Sinne unternommen wurden, werden einfach mit der Mittäterschaft der Universitäten unter den Teppich gekehrt8.
Stellen wir uns also die Frage.
Unter der wohlwollenden Aufsicht unserer Regierungen und internationaler Institutionen, die für den Schutz von Kindern zuständig sind, hält die Sexualisierung von Kindern (auch schon im jüngsten Alter) heute unter dem Banner der „Erziehung zum Gefühls- und Beziehungsleben und zur Sexualität“ mit Macht Einzug in die Schulen. Enthüllungen über das Ausmaß der Pädokriminalität lassen vermuten, dass es eine erschreckende Dunkelziffer von Kindesmissbrauch gibt. Die Milde der Justizbehörden gegenüber Sexualverbrechern verblüfft ebenso, wie sie anwidert.
Ist es nicht an der Zeit, sich zu fragen, welche Rolle die Dogmen der Freudschen Psychoanalyse bei der Bildung einer kollektiven Ideologie gespielt haben und heute immer noch spielen? Eine Ideologie, in der sich der reale Aggressor, der perverse Erwachsene, in Luft auflöste. Sie zog ein unschuldiges Kind in die Welt der Erwachsenen, in ihre Sexualität, mit der es nichts zu tun hatte. So setze sich in unser Bewusstsein das Bild eines kleinen Wesens durch, das von perversen Fantasien bewohnt wird… Eine von Freud aus dem Hut gezauberte Ideologie, die die Realität der Verbrechen hinter einem Nebelvorhang verschwinden lässt – einer Verschleierung, zu der das psychoanalytische Milieu wieder und wieder beiträgt.
Weiterführende Informationen:
Jeffrey Masson: Investigation in the Freud archives. Von echtem Missbrauch zu Pseudo-Fantasien. Der gegenwärtige Augenblick. Neue Ausgabe 2003. Der Filmemacher Michel Meignant hat einen Film auf der Grundlage von Jeffrey Massons Buch gedreht: https://www.laveritesurfreud.fr/.
Marie Balmary: Der Mann mit den Statuen. Freud und die verborgene Schuld des Vaters. Grasset, 1979.
Pierre Sabourin: „Psychanalyse, sexueller Missbrauch und die Sprache des Wortes“, Le coq héron, Nr. 146, Mai 1997.
Philippe Laporte: Freud et son père in L’érotisme ou le mensonge de Freud. Ed. Connaissances et savoirs, 2012.1. So erwähnt Jean Laplanche, einer der wichtigsten Theoretiker des Freudismus, lediglich: „Masson zum Beispiel beschränkt sich auf die faktische Verführung. Ich amüsiere mich immer über den Untertitel seines Buches ‚Freud streicht die Verführungstheorie‘, weil er zeigt, dass Masson von dieser Theorie rein gar nichts verstanden hat“. In Seduction, Translation and the Drives. Dossier unter der Leitung von John Fletcher und Martin Stanton, Psychoanalytic Forum: Institute of Contemporary Arts, London, 1992. Die Bedeutung von Massons Entdeckung, die den theoretischen Vorhang der Freudschen Psychoanalyse zu ziehen vermochte, hätte jedoch bei einem Theoretiker dieses Formats mehr als nur „Amüsement“ hervorrufen müssen. Im Gefolge von Laplanche kommentierten die französischen Theoretiker den Inhalt von Massons Entdeckung nicht und beschränkten sich meist auf Angriffe ad personam.
2.„Was hat man dir getan du armes Kind?“ Auszug aus Goethes Gedicht „Mignon“, das Freud ursprünglich als Motto der Psychoanalyse gewählt hatte.
3. Der Brief vom 21. September 1897 an Fliess ist die erste Erwähnung dieser Abkehr Freuds von der Verführungstheorie. Der erste öffentliche Ausdruck dieser Abkehr findet sich in einem Text Freuds, der auf Wunsch des Psychiaters Leopold Löwenfeld in dessen „Sexualleben und Neurose“ eingefügt wurde. Siehe „Meine Ansicht über die Rolle, die die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen spielt“, Sexualleben und Neurose. Wiesbaden, 1904. In Mein Leben und die Psychoanalyse wird Freud die Desavouierung seiner ersten Theorie noch einmal deutlich zum Ausdruck bringen: „Ich war schließlich gezwungen zuzugeben, dass diese Verführungsszenen nie stattgefunden hatten und dass sie nur Phantasien waren, die meine Patienten erfunden hatten“.
4. Diese Kürzungen erwiesen sich als klare Zensuren, die von den Herausgebern insbesondere auf Empfehlung von Anna Freud, der Tochter von Sigmund Freud und Marie Bonaparte, vorgenommen wurden. 133 von insgesamt 284 Briefen und Manuskripten waren Gegenstand dieser nicht gemeldeten Kürzungen oder wurden einfach aus der deutschen und französischen Ausgabe von Freuds gesammelten Werken entfernt. Für weitere Informationen über die – bewegte – Geschichte der Veröffentlichung der Fliess-Freud-Korrespondenz siehe zum Beispiel: Sophie Aouillé: „À propos de la parution des Lettres à Fliess de Sigmund Freud“, Revue Psychanalyse, n°9, Mai 2007.
5. Der Briefwechsel zwischen Freud und Fliess (nicht geschwärzt) zeigt deutlich, dass die Ächtung durch die psychoanalytische Fachwelt nach der Darstellung der Verführungstheorie für Freud unerträglich war. Karriere, Ruhm, finanzieller Wohlstand – auf all diese Dinge konnte Freud nach eigenem Bekunden nicht verzichten. Ausgehend von der Desavouierung seiner ursprünglichen Theorie arbeitete Freud daran, seine neue Sexualtheorie, die die infantile Sexualtheorie anstelle einer erlebten Aggression postulierte, zu einem echten Dogma zu machen. Jung berichtete in seiner Autobiografie von Freuds Beharren auf diesem Punkt. “Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud, zu mir sagte : Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentliche. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk” C.G.Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Walter Verlag, 1971, S. 154-155.
6. Die Frage, ob Freud selbst von seinem Vater missbraucht wurde, ist natürlich eine zentrale Frage, die das psychoanalytische Milieu hastig… nicht gestellt hat. Pierre Sabourin ist einer der wenigen Psychoanalytiker, die die Omertà in dieser Frage durchbrochen haben. Siehe: Zeitschrift Le coq-héron, Nr. 248, „Wäre Freud missbraucht worden? Wir werden gebeten, die Augen zu schließen“, S. 98-103.
7. Freud selbst war sich der Tatsache vollkommen bewusst, dass die Psychoanalyse als Wissenschaft sich niemals von einer Rehabilitierung der Verführungstheorie hätte erholen können. In Beitrag zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung schreibt er: „Auf dem Weg de die Gründung der psychoanalyse, musste eine falsche Vorstellung überwunden werden, die für diese junge Wissenschaft fast tödlich hätte sein können“. Anna Freud, die von Jeffrey Masson nach den Gründen für die Schwärzung von Freuds Briefen in den ersten Ausgaben gefragt wurde, wird eine ähnliche Antwort geben: Die Psychoanalyse hätte dann nie entstehen können.
8. Nach fünf Jahren Doktorarbeit wurde der Psychoanalytikerin und klinischen Psychologin Marie Balmary die Verteidigung ihrer Dissertation unter dem Vorwand verweigert, dass sie feststelle, dass Freud nicht auf einen Irrtum (den tatsächlichen Missbrauch von Kindern), sondern auf eine echte Entdeckung verzichtet habe. „Ich kann Sie das nicht schreiben lassen. Sie werfen ein Anathema auf die Psychoanalyse“, hatte sie von ihrem Doktorvater zu hören bekommen. Grasset war 1979 bereit, diese Arbeit unter dem Titel „Die Statue“ aufzunehmen: L’homme aux statues. Freud et la faute cachée du père (Freud und die verborgene Schuld des Vaters). Erst im Zuge der #Metoo-Bewegung wurde der Fall wieder in der Presse erwähnt.
Grob zusammengefasst:
Der eigentliche Skandal liegt aus meiner Sicht ganz woanders. Freud hatte in jungen Jahren einen sehr klugen, sensiblen Mentoren: Josef Breuer. Breuer erfindet 1880 – 82 ein Psychotherapie-Verfahren, das er Psych-Analyse = rückwärtsgewandte Auflösung psychischer Symptome nennt. Er sucht nach den Ursprungssituationen von Symptomen in traumatischen Erfahrungen: Gewalt, Entwertung, Unterdrückung, Schicksalserfahrungen. Das alles kann krank machen. Eine revolutionäre Sicht: Gewalt macht krank! Ein starkes Argument, um Gewalt einzuschränken und zu sanktionieren.
Dann tritt Sigmund Freud auf den Plan. Schon im Schlusskapitel der „Studien über Hysterie“ („Hysterie“ bedeutet damals so etwas wie psychosomatische Störung), die er 1895 zusammen mit Breuer verfasst hat, behauptet er, in dem Buch seien eigentlich gar keine Fälle von „reiner“ Hysterie vorgestellt worden. Die ganzen Falldarstellungen litten darunter, dass die zentrale Ursache dieser Störungen, die Sexualität, gar nicht untersucht worden sei. Freud übernimmt zwar Breuers Traumalogik für sein Behandlungskonzept, sieht das auslösende Trauma jedoch einzig und allein in frühzeitiger sexueller Erfahrung. Jeder Kopf- und Magenschmerz, jedes Herzrasen, jedes andere psychosomatische Symptom soll – nach Freud – allein auf derartige sexuelle Traumen zurückführbar sein. Kein Wunder, dass er mit seinen Thesen, die er ein Jahr später, 1896, vor einer Versammlung von Ärzten vorträgt, keine Begeisterungsstürme, sondern skeptisches Stirnrunzeln auslöst: Die Kollegen hatten sicherlich in etlichen ihrer ähnlichen Fälle genügend Hinweise auf ganz andere Ursprünge solcher Symptome.
Unbeirrt setzt Freud seine Hypothese in Therapie um. Er spitzt sogar seine These zwischen Ende 1896 und September 1897 so weit zu, dass er behauptet, dass psychosomatische Störungen ALLEIN durch eine Vergewaltigung durch den Vater im Alter von 1-7 Jahren verursacht seien, sofern die Erinnerung an solche Vorgänge verdrängt sei. Er berichtet in einem Brief an seinen Freund Fließ (3. Januar 1897), dass er zum Beispiel einer neuen „Hysterikerin“ „die Aufklärung“ „entgegenschleudert“. Die junge Frau bespricht das daraufhin mit ihrem Vater, der – für die Frau offenbar glaubhaft – entsetzt solch eine Beschuldigung von sich weist. Freud droht ihr an, sie aus der Therapie zu schmeißen, wenn sie weiter ihrem Vater glauben sollte. Bei einem anderen Patienten, einem Bankier, klagt er, dass dieser „ausgesprungen“ sei, „kurz bevor er mir die entscheidenden Szenen bringen sollte“. Dass seine Patientinnen ihm diese Konstruktionen nicht glauben, ist nicht nur eine große Kränkung für Freuds Selbstgefälligkeit, sondern bedeutet auch bisweilen einen herben finanziellen Verlust: Freud neigt dazu, stur an seinen vermeintlichen „Weisheiten“ festzuhalten, was die Leute eventuell dazu bringt, Konsequenzen zu ziehen; wer sich nicht länger für teures Geld irgendwelchen Unsinn einreden lassen will, bricht die „Behandlung“ ab.
So formuliert er dann ab September 1897: Ja, ich habe recht! Es geht immer um Sexualität! Es geht immer um Inzest! Es geht immer um Situationen aus dem Alter zwischen 1-7 Jahren! Es führt immer nur dann zu Symptomen, wenn die Erinnerung daran verdrängt worden ist! Nur in einem kleinen Punkt habe ich mich geirrt: Dieses Ereignis hat nicht in der Realität, sondern nur in der Fantasie des Kindes stattgefunden! (Und, nebenbei: Natürlich kann auch die Mutter zum Objekt der inzestuösen Begierde werden.) Der Ödipuskomplex ist geboren.
Von einer etwas höheren Ebene aus betrachtet: In seinem ersten Ansatz hat sich Freud ganz auf die Beschuldigung der Väter konzentriert. Im zweiten Ansatz hat er sich ganz auf die Perversion der Kinder konzentriert. Dass dritte Element des familiären Dreiecks, die Mutter, hat er nie ausdrücklich zur Ursache einer pathologischen Entwicklung erklärt – obwohl in seiner Mama Amalia der wesentliche Grund für seine neurotische Entwicklung zu suchen sein dürfte. Er hat es zwar nie gewagt, die Rolle von Müttern ins Zentrum seiner Pathologie-Analyse zu rücken, jedoch hat er seine offensichtlichen Mutter-Konflikte mit der immensen Frauenfeindlichkeit seiner Theorie kompensiert. Auf eine differenziertere Sicht, dass sowohl Väter, als auch Mütter, wie auch Großeltern, Geschwister, Lehrer, Ärzte, Schicksalsschläge und anderes psychosomatische Reaktionen anstoßen können, darauf kommt Freud nicht.
Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Josef Breuer, mit den früheren und späteren Hypothesen Freuds, mit dem perversen Sadismus eines Otto F. Kernberg, der von den Mainstream-Medien als Freuds Stellvertreter auf Erden gefeiert wird, und vieles mehr findet sich auf meinem yt-Kanal.
Es verblüfft mich übrigens etwas, dass sich der Beitrag von Marc Moustacakis im Grunde auf eine Wiederholung der Thesen beschränkt, die Masson bereits in den 80‘er Jahren vorgebracht hatte und die schon damals im wesentlichen wohl einem bestimmten Zweck dienten: Von dem wahren Skandal um Freuds schrittweise Abkehr vom klugen und im Grunde revolutionären Trauma-Modell Josef Breuers abzulenken.
P.S.: Gerne würde ich das Thema etwas mehr im Detail mit dem Verfasser des Artikels – Marc Moustacakis – diskutieren.