Das Prinzip Störung

Als ‚Seismograph‘ von Vergangenheit und Gegenwart hat sich Prof. Dr. Carsten Gansel mit der Rolle von Störungen im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung sowie ihrem Einfluss auf die herrschende Meinung beschäftigt. Robert Cibis bespricht mit dem Literaturwissenschaftler und Medienforscher die Funktion von Kultur als Reflexionsorgan sowie Medium der Umverteilung von Erfahrung. Schließlich entscheide sich in gesellschaftlichen Prozessen, welche Narrative im kollektiven Gedächtnis dominierend sind und welche in eine Art „Gegen-Gedächnis“ geraten. Dieser Konflikt sei maßgeblich für die Struktur von Gesellschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine entscheidende Frage besteht darin, wie eine demokratische Mitsprache für einen jeden gewährleistet werden kann.

Bücher des Autors:

„Stile der Popliteratur“

„DEUTSCHLAND RUSSLAND“

„Dokumentarisches Erzählen“

„Trauma-Erfahrungen und Störungen des ´Selbst´“

„1968 – Ost – West — Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten“

„Warnung vor Büchern“

„Wir selbst“


Ein Leben in Buchstaben: Nennen Sie das Thema, Prof. Dr. Carsten Gansel zitiert eine passende Textstelle dazu, aus einem Roman, einer Rede, einem Song… Der Literaturwissenschaftler und Medienforscher verleiht dieser Narrative-Folge mit seinem Ansatz einen besonderen Blickwinkel. Er beschreibt die derzeitige Krise, die sich jeden Tag weiter aufzublähen scheint, anhand von literarischen Werken und Thesen bekannter Kulturtheoretiker. Dabei geht es um Störungen des Selbst, des sozialen Zusammenlebens, aber auch darum, wie sich Störungen in politischen Systemen bemerkbar machen. Ein Beispiel, das Prof. Dr. Carsten Gansel immer wieder zitiert, ist das der DDR: ihrer Bürger und deren Einstellung zu Diktatur und derzeitigen Zuständen, die sich anschicken, der Diktatur noch Konkurrenz zu machen. Ein guter aktueller Vergleich, wie frei Kunst, Meinung und Information in diesem Land behandelt werden, ist die Aktion #allesdichtmachen, auf die der Medienexperte in dieser Sendung ebenfalls konkret zu sprechen kommt.

Prof. Dr. Carsten Gansel erläutert zunächst, warum für politische Störungen ein sehr unterschiedliches Sensibilisierungslevel bei den Bundesbürgern bestehen dürfte. Auf die Frage: „Haben Sie Diktaturerfahrung?“, konnten die meisten Menschen in Deutschland bisher ganz entspannt mit „nein“ antworten. Diejenigen, die etwa in einem Land wie der DDR großgeworden sind, in einer „Diktatur des Proletariats“, in der es beispielsweise Quoten dafür gab, wie viele Nicht-Arbeiterkinder Abitur machen durften, die haben schlichtweg ein anderes Radar aufgebaut. Viele von ihnen werden demnach wohl schneller misstrauisch, wenn sie nahegelegt bekommen: Das darfst du nicht sagen, das könnte dich in Schwierigkeiten bringen. Ähnlich hätte auch der Schauspieler und ehemalige DDR-Bürger Jan Josef Liefers denken müssen, als er sich an der Aktion #allesdichtmachen beteiligte. In einem neuen Buch wird Professor Gansel zusammen mit anderen Autoren Analysen über das Kurzfilmprojekt anstellen. Diese setzten sich kritisch und satirisch mit den restriktiven Maßnahmen und Verboten der Coronakrise auseinander und wurden dafür in den Mainstream-Medien sehr weit mehr gescholten, als die mitwirkenden Schauspieler dies wohl je erwartet hätten.

Es ist ein hoher Preis, den derjenige zahlen muss, der heutzutage nicht angepasst sein möchte. Politische Korrektheit und manische Toleranz gegenüber allem, was offiziell als korrekt und tolerierbar bestimmt wird: das ist erste Bürgerpflicht. So muss sich manch Abtrünniger in Coronamaßnahmen-Zeiten wirklich ausgeschlossen fühlen. Doch wer glaubt, diese Zustände der Krise seien neu und unverbraucht, der irrt. Nachlesen hätte man es können, in dem Text „Die Seuche“ von Gottfried Meinhold aus dem Jahr 1972 zum Beispiel (2:01:39). Die Parallelen in diesem Stück sind enorm. Auch in Meinholds Text geht es darum, sich einer Krankheit voll und ganz zu unterwerfen. Generell könnte man vieles in der Literatur vergangener Dekaden finden, das auch gut den Zustand der heutigen Gesellschaft beschreiben würde. Die Ideen und Empfindungen aus der Vergangenheit sind ein unsichtbares Erbe über Generationen hinweg. Bei genauerem Hinsehen wirken die Inhalte nicht direkt erbaulich. Einen vollends trüben Ausblick in die Zukunft gibt Prof. Dr. Carsten Gansel allerdings noch nicht. Die Anti-Utopien, über die er im Laufe dieser Narrative-Folge ebenfalls genauer spricht, sind kein Schicksal, dem wir uns ergeben müssen. Auch wenn er sich selbst digital manchmal schon auch sehr bedroht fühlt, etwa von Smartwatches oder handygesteuerten Wischrobotern. Da schlägt es dann aus, sein sehr sensibles Diktatur-Radar.

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