Segregation
Ihr Roman war fast fertig, dann kam die Corona-Krise und Kathrin Schmidt musste die 1930er Jahre neu erzählen… Die mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Schriftstellerin basiert ihre fiktionalen Geschichten auf gründlicher Recherche über reale Personen und Ereignisse. Aber nicht nur dieser analytische Blick in die Vergangenheit macht aus, was erzählt werden muss, sondern auch die Gegenwart. Wie diese die Narrative massiv beeinflusst, erörtert die Berlinerin mit Robert Cibis.
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Kathrin Schmidt – Schriftstellerin
Kathrin Schmidt sagt, sie hat einen „Hühnerroman“ geschrieben. Was das genau ist, werden wir wohl nie erfahren, hat sie das Werk, das in den Jahren 2017 und 2018 spielen sollte, doch vor der Veröffentlichung zurückgezogen. Vergleichsweise zu viel „Friede, Freude, Eierkuchen“ erschien ihr das zu sein, was sie in dem Buch thematisierte. Die Autorin konnte sich nicht mehr damit identifizieren, da die Corona-Krise plötzlich ganz andere Zeiten und gesellschaftliche Probleme eingeläutet hat. In dieser Folge von Narrative spricht die Schriftstellerin trotzdem noch mal ein wenig über das, was sie für den „alten“ Roman entwickelt hatte und wie sie es mit einem neuen Werk verflechten will. In dem nächsten Buch wird es ganz stark darum gehen, was wir momentan erleben, eine Zeit der Ungewissheit und der Trennung.
Und so beginnt diese Folge mit einem Video-Einspieler (7:57), der sensiblen Menschen oder solchen mit Schulphobie sicher direkt den Angstschweiß auf die Handflächen treibt. Wir sehen Kathrin Schmidt auf einer förmlichen Veranstaltung. Diese wurde im Sommer 2021 zu ihren Ehren abgehalten, da sie den Preis der Dresdner Stadtschreiberin verliehen bekam. Anlässlich der Ehrung trägt die Beigeordnete für Kultur und Tourismus der Stadt, Annekatrin Klepsch, dort ein Grußwort vor. Allerdings läuft das Ganze nicht so ab, wie es sich die meisten bei den Begriffen „Auszeichnung“ und „Würdigung“ wohl vorstellen würden. Menschen, die ein bisschen DDR-Bezug haben, dürften sagen: Das ist ja wie beim Fahnenappell! Also bei einer öffentlichkeitswirksamen schulinternen Veranstaltung, wo unter anderem die braven und erfolgreichen Kinder und Jugendlichen vor der gesamten Schule geehrt und die Bösen vor allen getadelt wurden. Grund des außerschulischen Tadels war in diesem Fall Kathrin Schmidts Artikel „Weißkittel mit finsteren Plänen“, der am 29. Mai 2021 bei Rubikon erschien. Die Dresdner Rednerin zitierte mit finsterem Gesicht diverse Passagen aus dem Artikel und die Autorin – die blieb ruhig. Sie kann solche Dinge gut abspalten, sagt sie in dieser Narrative-Folge. Sie habe zudem Verständnis dafür, dass sich die Rednerin aus Angst und Panik vor dem Virus derart an ihren Ausführungen gestoßen haben muss. Kleine Versuche, neutral zu sein und doch gibt es Missverständnisse überall. Schwierige Zeiten. So bleibt die Frage: Wie kann sich so eine Gesellschaft überhaupt wieder „entspalten“?
Kathrin Schmidt ist zumindest mit sich selbst im Reinen. Auch mit ihrer Familie kann sie offen über all die Themen sprechen, die sie anders sieht, als derzeit wohl die meisten Menschen hier im Land. Zu ihrer Einstellung kam sie auf traditionellem Wege: Sie hat die öffentliche Darstellung der Corona-Zahlen hinterfragt und selbst recherchiert. Seither plagt sie sich mit der Rolle der „Anderen“ in einer Gesellschaft, die das Regierungsnarrativ über die Gefahr einer Virusinfektion nicht hinterfragt. Im Laufe dieser Unterhaltung knüpft sie Parallelen zu den von ihr selbst erlebten DDR-Zeiten. Damals lernten die Menschen, dass das, was ihnen die Staatsnachrichten präsentieren, sich nicht zwangsläufig mit dem echten Leben deckt. Jeder wusste es, alle konnten es einordnen, kein Kommentar gebraucht. Heute ist das anders. Dabei gäbe es so viele Fragen und interessante Vergleiche mit der früheren Geschichte, die jedoch keiner so recht ziehen darf. Daher geht es in dieser Narrative-Folge unter anderem um das Thema Gedankenvorgabe und um Zeitdokumente aus den Dreißigerjahren, auf die Kathrin Schmidt im Rahmen ihrer Recherchen stieß. Sie gibt Einblicke in ihre Arbeitsweise, Bücher zu schreiben und erklärt ihren Anspruch, den Leser die Dinge selbst erkennen zu lassen. Natürlich geht es in dieser Folge von Narrative auch um aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland, warum die Regierenden das Gefühl für das wirkliche Leben verloren haben und wie man sich selbst das (zu frühe) Urteilen abgewöhnen kann.