Maßnahmen-Ende in einer Firma am Rande der Stadt


Noch hatte man versucht, die als „Maßnahmen“ euphemisierte evidenzlose Drangsalierung der Beschäftigten ein wenig weiter zu treiben.

Zu wohl hatte man sich gefühlt, und sich allzu gemütlich eingerichtet im neuen Unnormal seit 2020 …
Wir alle zusammen gegen den unsichtbaren Feind!

Das setzen wir jetzt alle um und vor allem durch! Eine Taskforce musste her.

Der Hausmeister, besser klingend Facility Manager und seine Adepten stiegen zu ungeahnten Ehren auf. Waren sie bis neulich noch unbeachtet mit dem Werkzeugkasten unter den Tischen herum
gerobbt oder hatten Kabel gezogen, wurde der Blaumann nun zur Uniform der hausinternen Seuchen-Sheriffs, vor denen sogar der CEO hätte kuschen müssen, es in seiner stromlinienförmigen
Vorbildlichkeit aber nie soweit hätte kommen lassen, dass eine niedere Charge den Sitz seiner Maske oder das falsche Begehen einer Einbahnstraße hätte beanstanden können.

In Windeseile war das gesamte Gebäude ausstaffiert worden mit niedrigschwelligen Postern, Aufklebern, Pfeilen, Verkehrsschildern und Flatterband.

Es gab Markierungen im Aufzug, auf die man sich zu positionieren hatte.
Gespräche bitte vermeiden! Vor und hinter jeder Tür gab es Desinfektionsspender, deren Nichtbenutzung vom Aufsichtspersonal mit einem gebellten „Desinfizieren Sie sich!“ quittiert wurde. Obwohl nun fast alle im Homeoffice dümpelten, wieselte mehrmals täglich ein emsiger Putztrupp durch die menschenleeren Büros und feudelte die verwaisten Schreibtische ab – wieder und wieder, ganze zwei Jahre lang.


In der Tiefgarage waren die wenigen noch vor Ort arbeitenden Mitarbeiter angehalten, nur jeden dritten Parkplatz zu benutzen, um die Einhaltung der Abstände beim Ein- und Aussteigen zu garantieren.

Man würde dies überprüfen, hieß es auf den Hinweisschildern, und Zuwiderhandlung strengstens ahnden.
Ausdrücklich bat man die Parkenden, die Maske bereits im Fahrzeug aufzusetzen, und appellierte an die Einsicht jedes Einzelnen, dies auch ohne Kontrolle auszuführen.
Am Eingang ins Gebäude prangten die ersten Plakate mit einer ausführlichen Liste der Verhaltensregeln.

Strichmännchen veranschaulichten, wie zwei Personen Abstand halten.

Auf dem Boden aufgebrachte Fußabdrücke aus gelber Folie wiesen den Weg Richtung Treppenhaus und Aufzug.

Dazwischen aufgeklebte Stoppschilder im Abstand von zwei Metern für den Fall, dass sich ein
Stau bilden sollte, waren mit zwei Fußabdrücken parallel nebeneinander stehend gekennzeichnet und signalisierten „Hier stehenbleiben!“, Beschriftung in deutsch und englisch räumte letzte Zweifel am Zweck der Markierungen aus.
Vor dem Treppenhaus führten drei Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes die Einlasskontrollen durch. Einer der Sicherheitsbediensteten saß in einer Plexiglas-Umhausung am PC und tippte die Namen von den Mitarbeiterkarten ab.

Ein weiterer maß die Körpertemperatur mit einer Art Pistole, die er dem um Einlass ersuchenden an den Kopf hielt.

Der dritte händigte jedem einen Test und eine Maske aus und wünschte einen schönen Tag. Danke!
Tageweise wurden die Aufgabenbereiche durchgewechselt, damit jeder einmal mit der Pistole tätig werden konnte.

In der Kantine hatte man zwei Drittel der Tische entfernt. An den verbliebenen durfte je an der Stirnseite eine Person Platz nehmen, nachdem sie erfolgreich den kurvenreichen Parcours durch
mäandernde Wandelgänge aus Flatterband und Pfeilen vom Eingang, über die Essensausgabe und Kasse zum vorher zu buchenden Tisch absolviert hatte. Explizit erst im Sitzen durfte die Maske abgelegt werden.

Auf den Einbahnstraßen vorbei an Kontrollposten der Taskforce wurde diszipliniert gewartet, um den Abstand aus sicherheitshalber zwei Metern nicht zu unterschreiten.

Auch hier zeigten Stoppschilder mit parallelen Füßen und Beschriftung den korrekten Abstand an.

Wichtige Details zum Bezahlvorgang sowie den Umgang mit Geschirr und Besteck erläuterte ein liebevoll ausgearbeitetes Erklärvideo, welches aus allen Richtungen
einsehbar auf Monitoren abgespielt wurde: „Bitte beachten Sie die Hinweise in unserem Corona-Lehrfilm!“.

In der Hauptrolle: Der Facility Manager. Und sah er nicht tatsächlich ein wenig aus wie Johnny Depp? Vorher hatte man es kaum bemerkt. Nun aber war es nicht mehr zu übersehen.

Schon nach wenigen Tagen gingen erste Autogrammwünsche per eMail ein.

Nicht nur die Kontrolle und Lenkung der Mitarbeiterströme waren Aufgaben der Taskforce.

Ein Stab aus einer zweistelligen Anzahl von Verantwortlichen wurde berufen, um Maßnahmen und
Kommunikation in täglich mehrstündigen Zoom-Meetings zu koordinieren.

Organigramme wurden erstellt, Titel vergeben, im Intranet eingepflegt und Gehälter angepasst. Gleichzeitig wurden die Mitglieder der Taskforce in ihren vormaligen Aufgabenbereichen ersetzt, die entsprechenden Organigramme aktualisiert, eingepflegt, Titel, eMail-Signaturen und Gehälter angepasst.


Um die Belegschaft auf dem Laufenden zu halten und vor allem Panik zu vermeiden, wurden täglich die offiziellen Zahlen in einem aufwändig gestalteten Newsletter veröffentlicht und der tiefen, aufrichtigen Bestürzung über die steigende Anzahl an Opfern Ausdruck gegeben.

Zur internen Kommunikation innerhalb der Taskforce versandte man mehrmals täglich Lageberichte, deren Inhalte parallel in einem passwortgeschützten Bereich im Intranet einsehbar waren.

Es gab Handbücher, eine Meldekette und regelmäßige Übungen des absoluten Notfalls.

Inzwischen hatte die Taskfoce mehrere Arbeitsgruppen und über ein dutzend freie Mitarbeiter.

Leider trat dann doch nach einigen Wochen trotz besten Bemühensund strengster Kontrolle der erste positive Test in der fast 900-köpfigen Belegschaft auf.

Die Taskforce entschied sich, aus Gründen der Transparenz, den Fall anonymisiert, jedoch in aller
Ausführlichkeit zu kommunizieren und wurde durch zahlreiches
Feedback in ihrem Vorgehen bestärkt.

Von nun an wurde jeder positive Fall der gesamten Mitabeiterschaft reportiert.

Bald musste die Taskforce erneut personell aufgestockt werden, denn fast alle zwei oder drei Wochen kam nun ein positiver Fall hinzu und das Arbeitsaufkommen vervielfachte sich exponentiell.

Arbeitsbelastung und Verantwortung waren immens. Doch alle zogen an einem Strang.

Noch nie hatte es eine solch enthusiastische Einsatzbereitschaft und Aufbruchstimmung nahezu in der gesamten Belegschaft gegeben!

Jeder konnte seine kreativen Ideen zur Optimierung der Schutzmaßnahmen einbringen.
Nur zu einer Maßnahme hatte man sich nicht durchringen können, obwohl ihre Brillanz augenfällig war: In einer benachbarten Firma waren 400-Euro-Kräfte angestellt worden, um mit Schildern durch die
Firma zu wandeln, auf denen Verhaltensregeln in Kurzform aufgebracht waren. „MASKE TRAGEN“ und „ABSTAND HALTEN“.
Aber zum einen aus Kostengründen, vor allem jedoch wegen der wenigen noch vor Ort befindlichen Mitarbeiter hatte man diese schöne Idee verworfen und dem Mitarbeiter für seinen Vorschlag
eine kleine Prämie ausgezahlt.
Regelmäßig sprach der CEO in online Meetings allen seinen Dank aus, erwähnte Einige sogar namentlich und unterstrich die Verantwortung jedes Einzelnen, auf die Einhaltung der Maßnahmen
durch die Kollegen zu achten und gegebenenfalls die Vorgesetzten zu involvieren, falls es Verstöße geben sollte.

Eine „Straße der Besten“ mit Fotos und Urkunden als pdf wurde eingerichtet.
Aber all dies würde irgendwann vorbei sein. Nun also war die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Fünf Wochen war man bereits über die Zeit hinaus und es gab wirklich keine – gar keine – Begründung mehr, den Ausnahmezustand beizubehalten.
Vorsichtige Lockerungen? Noch zwei Wochen? Die Taskforce tagte über Stunden und fasste einen mutigen Entschluss: Alle Maßnahmen nur noch auf freiwilliger Basis.

Die Belegschaft habe in den vergangenen zwei Jahren so prima mitgemacht, sich eingebracht,
alles verstanden und umgesetzt, dass man hoffe, die Regeln würden nun ohne Vorschriften beibehalten, hieß es in einer Abschiedsmail.

Leise und beinah etwas wehmütig wurden die bunten Poster mit den Strichmännchen entfernt, das Flatterband eingeholt und die Tische wieder aufgestellt.

Nur die Fußabdrücke aus gelber Folie und die nun schon arg abgenutzen Stoppschilder am Boden mussten in mühevoller Kleinarbeit mit Lösungsmittel abgeschabt werden.

Wer wäre dafür besser geeignet gewesen, als die in den letzten zwei Jahren bewährte Taskforce, Arbeitsgruppe „Operatives Maßnahmenmanagement – Beschilderung und Abstandskontrolle“,
bestehend aus Johnny Depp und seinen Sheriffs, die nun wieder auf dem Boden der Tatsachen tätig werden konnten.

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